Tu was du willst

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Druckhaus Galrev, Café Kiryl, Decke, 7.2.1992, Berlin

Lügen und Wahrheiten, Teil 3 - Erinnerungen an ein paar Dachschäden und Freiräume im alten Prenzlauer Berg.  Der Dichter Andreas Koziol sorgte in den achtziger Jahren in Ost und West für Furore in den Feuilletons. Auch die Stasi war in dem Künstler-Biotop im Prenzlauer Berg leibhaftig präsent. In seinem Essay "Lügen und Wahrheiten" berichtet er von einer fast vergessenen Epoche Ostberliner Subkultur.

Mündigkeitsprobleme

Die intuitive Einfühlung in das Wesen eines wahren, nur eben verhinderten Lebens ging bei manchen bis in die Heraufbeschwörung analphabetischer Bewußtseinszustände. Man meinte wohl, wer nicht einmal lesen könnte, der müßte eigentlich besser leben können, frei von Erinnerungen und Verantwortung für die Beachtung von geschriebenen Gesetzen, die den Menschen zu einem Risikofaktor der herrschenden Ordnung erklärten. Jener mystische Flirt mit dem Analphabetismus konnte durchaus wie ein befremdliches Abzielen auf Selbstentmündigung wirken, wenn man den heiligen Ernst ignorierte, mit welchem dabei in den archaischen Grundlagen der Kulturgeschichte gebohrt wurde, um das Übel des nicht er selbst sein könnenden Menschen irgendwie an der Wurzel zu fassen zu bekommen.

Es geschah auch nicht aus purer Langeweile, dass junge Maler plötzlich zum Pinsel griffen und ihre Malgründe wie prähistorische Höhlenwände behandelten. Die kunsthistorisch längst eingeordnete Ära der modernen Primitiven in der Kunst wollte aus dem Museum zurück ins Leben und noch einmal den springenden Punkt finden, den Status nascendus der aus dem Mythos geschlüpften Zivilisation. War das - einem Mangel an Aufklärung geschuldeter - Atavismus? Schwer zu sagen für diese eine, sich selber nicht mehr zeitgemäß findende Zeit, die allenfalls der Konsens, daß das Maß längst voll sei, noch eine Weile notdürftig zusammenhielt. Naiv, ja, naiv konnten derlei Untergrabungsimpulse sicherlich genannt werden, aber unbedarft oder harmlos waren sie gewiß nicht. Naivität oder Einfalt bedeutete ja nicht: Verblödetheit, wie der moderne Sprachgebrauch es nahelegte. Es war auch weniger eine mentale Verfaßtheit damit gemeint als vielmehr – jetzt von Malerei wieder abgesehen - eine sich an Worten entlangtastende und dabei gleichzeitig die Worte von ihrem Normalgebrauch reinigende Technik der Seinsvertiefung.

So gesehen nichts besonderes - jede Poesie hat damit zu tun. Nur bei dem dichterischen Konzept von Bert Papenfuß fand sich fast von Anfang an ein ausgetüftelter Ansatz, mittels sprachalchemistischer Zersetzungsprozesse den eigentlichen Kern der Dinge hervorscheinen zu lassen. Das klingt hier viel theoretischer als es tatsächlich gewesen sein konnte. Eigentlich brauchte man sich dabei nur an das Kind halten, das man nicht allzu viele Jahre zuvor noch selber gewesen war, das mit Worten spielen durfte, ohne den Zusammenbruch der Bedeutungszusammenhänge fürchten zu müssen.

Das Kind ist freilich unmündig im juristischen Sinne des Worts. Aber dafür besitzt es eine Art von kreatürlicher Mündigkeit, die näher am Ursprung des Lebens zu sein scheint. Also kann man sich im Zweifelsfall auch von einem Kind sagen lassen, was die Dinge außerhalb ihres funktionalen Gebrauchs sonst noch sind oder sein könnten. Ich würde das populäre Vorurteil „Nur Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit“ in Bezug auf die damalige Lage ungefähr wie folgt adaptieren: Der DDR-Bürger kämpfte, wenn das Maß bei ihm irgendwann überlief, gegen die Windmühlen des Machtapparats um sein Recht auf Mündigkeit oder Ausreise in den Westen. Unsereiner hingegen, der die Schnauze von Jugend an voll hatte, versuchte die Schatten der staatlichen Bevormundung mit Worten zu vertreiben, die vielleicht auch ein Kind gesagt haben könnte. Nur mit dem Unterschied, daß wir eine Kunst daraus zu machen gezwungen waren, weil wir ja keine Kinder mehr waren und das Leben für zu kurz hielten, um daraus anstelle einer Kunst ein Geschrei gegen schwerhörige Politbürokraten zu machen. Und regelmäßig betrunken haben wir uns, wenn es nicht nur die reine schlechte Gewohnheit war, um das erreichte Niveau jede Nacht aufs neue gegen die niederdrückenden Realitäten des sozialistischen Alltags zu verteidigen.


Tu was du willst

Die aufkommende Endzeitstimmung, die bereits um das Jahr 1980 herum wie ein unsichtbarer Industriesmog in der Ostberliner Luft lag, war manchmal nahezu mit Händen zu greifen und andererseits überhaupt nicht zu spüren, sie war nur eine dunkle Frühlingsahnung in der Mitte eines mühsamen Winters, und alles strukturell Gegebene ging weiterhin seinen sozialistischen (Nieder)Gang, den wir weder mitgestalten noch aufhalten und auch nicht beschleunigen wollen konnten. Wir (ich meine im Zweifelsfall mit diesem „wir“ stets auch niemanden) empfanden uns bestenfalls als die Abfallprodukte einer staatlich organisierten Entfremdungsindustrie, und weder zum Amt des Rufers in der Wüste noch zum Sandkorn im Getriebe berufen. Weder noch, weder noch und nochmals weder noch.

Wir waren womöglich, das ist jetzt lediglich eine atmosphärische Selbstdefinitionslaune, so etwas wenig Meßbares wie eine Weder-noch-Irritation in einem bedrückenden Entweder-oder-Klima. Hat man, so wurde es von uns angenommen, einmal die erschöpften Verhältnisse verlassen, kann es nur noch Verhältnisse geben, die man sich selber schafft, vorausgesetzt, die Verhältnisse, aus denen man kommt, schlagen nicht heimtückisch zurück. Ich denke nicht, daß ich mit Reflexionen dieser Art zu weit vom Thema abkomme. Wenn man den Gegenstand seiner Beschreibung von innen sehen will, muß man sich schon ein wenig in ihn versenken dürfen. Möglicherweise geben spontan aus der inneren Versenkung heraufgeholte Assoziationsbrocken mehr Aufschluß über das Thema als z. B. die ohnehin nur von kuratorischer Endgültigkeit zeugenden Exponate eines Museums der Zeitgeschichte, in welchem sich ein Besucher, der den musealisierten Zeitraum noch aus eigenem Erleben in Erinnerung hat, mitunter fühlen mag als sei er der Staub auf den Ausstellungsvitrinen.

Ich rede hier im Moment auch gar nicht von Artefakten, sondern von kryptischen Fakten, bestimmte Merkmale einer ein paar Jahrzehnte zurückliegenden Situation betreffend, in der die Sphären des Politischen, des Literarischen, des Lebensweltlichen und des Ideologischen unter dauerhaft pressiven Bedingungen zu eigentümlich aneinanderhaftenden Ausdrucksformen konglomerierten.

Wo waren wir stehengeblieben? Bei der Frage der subjektiven Selbstbestimmung, die ohne die Frage nach der Freiheit nicht auskommt, auch der Freiheit, machen zu können, was man will. Die ist nur Wolkenflug, solange man nicht weiß, was man will. Man erfährt zunächst nur, was man machen kann, nachdem man sich von den Autoritäten verabschiedete, die einem sagten, was man machen soll. Man stellt dann vielleicht fest, daß es nicht viel ist, was sich ohne die Billigung der Machthabenden machen läßt. Aber was solls, sagt man sich, wenn es nur etwas eigenes ist, wenn es nur nicht die Prägung eines fremdbestimmten Tuns hat, dann kann es getrost auch erst einmal nur wenig sein. Also was oder wer, außer mir selbst, könnte mich daran hindern, das Wort Unabhängigkeit für mich neu zu bestimmen, es zunächst einmal sogar von seinen ökonomischen Voraussetzungen zu lösen und mir die innere Freiheit zu nehmen, zu denken und zu machen was ich will.

Mögen einstweilen die anderen denken und machen, was sie wollen. Wenn ich mit der Verrücktheit, die das unweigerlich bedeuten muß, ruhig an mich halten kann, soll es mir gleich sein, was andere von mir halten, solange sie mich machen lassen, was ich will. Das Wort Anarchie ist ein sinnvoller Wink für den leicht zu verstehenden Wunsch, nur noch zu machen, was man will. Der Wunsch bleibt unreif und vorschnell, solange man nicht versteht, daß es zu seiner Erfüllung nicht etwa gar keine Moral sondern im Gegenteil eine sehr genaue Moral braucht. Im Wesentlichen könnte diese etwa so lauten, daß man eben nicht nach Willkür und Belieben handelt, sondern nach Maßgabe der Eigenverantwortung, die in jedem Fall so wahrgenommen werden muß, daß man anderen nicht schadet und folglich hinterher gar nicht gewollt haben will, was man tatsächlich gemacht hat.

Das klingt vielleicht nach einer Menge hinderlichem Holz moralpredigthafter Natur, aber es ist im Grunde nichts anderes als der Versuch, die Wurzel zu beschreiben, die radikale Voraussetzung der Entscheidung für ein selbstbestimmtes Dasein - sogar für eines auf dem Boden des Verbots, einen eigenen Kopf zu haben, sofern dieser nicht zur Behauptung der herrschenden Machtverhältnisse zur Verfügung steht. Es war ja noch lange nichts, aus dem aber etwas werden konnte, wenn man nur genügend Neugier und Neigung mitbrachte, sich den von den gröbsten Mitläuferreflexen befreiten Impulsen zur Selbstbestimmung zu überlassen. Der Boden der realen Tatsachen eignete sich nicht als Wurzelgrund für den Eigenanbau. Man konnte es nur wie im Traum tun oder überhaupt nicht tun.

(Einer Bemerkung von Heiner Müller zufolge wiesen die literarischen Gewächse, die dann allmählich aus dieser Radix entstehen sollten, Ähnlichkeit mit holländischen Lufttomaten auf: die ironische Beurteilung eines großen Dramatikers, dem aufgefallen war, daß jene Wurzeln eines soliden Rückhalts in historischen Tatsachengründen entbehrten.)  


Häuserfluchten

Der Prenzlauer Berg war nun mal nicht gerade die Wahlheimat von neuromantischen Mönchen mit einer humanistischen Ordensregel, sondern ein zugiges Stadtviertel mit dem Charakter einer diffusen Endstation für jeden unruhigen Jugendlichen, den die Neugier auf alles vergleichsweise Nichtprovinzelle nach Ostberlin getrieben hatte. Er war ein abenteuerliches Labyrinth für jeden Sehnsüchtigen, der dort seinesgleichen suchte und viel eher finden konnte, als anderswo, zumal in einer halbierten Metropole, die durch die Grenzmauer das Ende der bislang erfahrenen Welt markierte.

Es ging ein Sog von dieser sogenannten Frontstadt aus, von dem man nicht genau wissen konnte, wohin er einen tragen würde, ob in den Westen oder ins Gefängnis, ob zu sich selber oder weiter von sich fort. Und die Angst ging in den tiefräumigen Straßenschluchten ebenso um wie in den Kleinstadtgassen der übrigen DDR, nur daß sie eiliger ging und einem bedeutender vorkam als anderswo, weil sie eben eine Hauptstadtangst war. Man fühlte sich, vor allem, wenn man nachts noch draußen unterwegs war, oft von irgendetwas verfolgt, und nicht immer war es letztendlich nur das Echo der eigenen Schritte auf dem Asphalt.

Soweit es mein eigenes emotionales Ankunfts- und späteres Daseinsbefinden im Prenzlauer Berg jener Jahre angeht, war allein schon der bloße Anblick der hoch aufragenden Häuserfluchten in ihrer gähnenden Weitläufigkeit eine einzige Aufforderung zur Selbstbeschleunigung beim Verschwinden von der Bildfläche. Die häufige Präsenz von dubios herumlungernden Passantenfiguren, die man über drei Ecken mit der Stasi in Verbindung zu bringen gewohnt war, tat ein übriges zum Verderben eines ungebrochenen Anwesenheitsgefühls. Aber ich möchte mit diesem raumumfassenden Negativeindruck auch niemandem zu nahe treten, der die Stadt aus einer ganz anderen Perspektive betrachtete, beispielsweise jener einer Vertrautheit von Kindheit an.


Irrelevant oder nur irre

Wie verhielt es sich nun mit der Frage der Willensfreiheit in Bezug auf unser scheinbar unverhältnismäßiges Verhalten, einschließlich des Verdachts leeren Kunstgebarens oder zwanghafter Selbststilisierung in den rückwirkend in Verruf geratenen Jahren seit 1980? Konnten wir überhaupt genau wissen, „was wir machten, wenn wir zu machen meinten, was wir wollten? Machten wir uns nur vor, machen zu können was wir wollten? Wir meinten, uns nichts vorzumachen, indem wir vor allem nicht irgend etwas nachmachen wollten. Wir legten es auch nicht darauf an, daß die Macht sich etwas aus uns machte, und uns einte der Vorsatz, sich von der Macht nicht zu etwas machen lassen, das dann sein zu müssen den Verlust der Selbstachtung bedeuten würde. Es wäre doch gelacht, wenn sich dabei nicht auch etwas Neues machen ließe. So oder ähnlich war es unausgesprochen unter uns abgemacht. Damals dachten wir, das reicht für ein Vermächtnis.“

Doch genug des (damals nicht so) abgedroschenen Wortspiels. Jugend irrt sich immer, und Jugendirresein wäre letzten Endes nichts anderes als ein trauriges Ergebnis eines zu ungestümen Vorgriffs auf die Totalität des Lebens. Das soll nicht heißen, daß die jugendlichen Protagonisten des seinerzeitigen Nischenkampfs um Unabhängigkeit mit literaturähnlichen Ausdrucksmitteln unter Dementia praecox gelitten hätten. Es scheint mir nur den Hinweis wert zu sein, daß ein junger Mensch auch ein gewisses ungewisses Recht auf Totalverblendung hat, ein Recht, das man ganz unnötig lächerlich machen würde, wenn man es in seiner pathologisch reduzierten Form zum Argument eines Plädoyers auf Unzurechnungsfähigkeit verkürzte.

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